Wagner, ein Mann der Ordnung und Präzision, findet seinen Frieden am Ufer eines kleinen Sees – bis das gewohnte Bild gestört wird: seine geliebten Schildkröten sind verschwunden. Aus Angst vor dem Schlimmsten beginnt er gemeinsam mit der temperamentvollen Annie, einer Biologielehrerin, eine fieberhafte Suche. Ihre Ermittlungen führen sie zu einem unerwarteten Ort und enthüllen ein Geheimnis, das nicht nur das Schicksal der Schildkröten, sondern auch Wagners Leben für immer verändern wird.
Eine Kurzgeschichte.
1
Im Alpenvorland ist das Gras ein bisschen grüner, sind die Seen funkelnder, die Sonne wärmer und die Luft klarer als anderswo, dachte Wagner stolz, während er innerlich die Nase rümpfte. Das Leben ist hier noch in Ordnung, die Menschen freundlich und das zünftige Essen bei uns im Chiemgau ein wahrer Genuss. Er dachte sowas oft während seiner Spaziergänge, die jeden Tag an einer Bank am kleinen See im Naturschutzgebiet am Rande seines Geburtsorts endeten. Er setzte sich auf die mosige, zerfurchte Sitzgelegenheit, an der er exakt um halb elf seinen Platz einnahm. Die Füße standen säuberlich parallel nebeneinander, der linke Arm lag reglos auf der Lehne. Er atmete mehrmals so tief durch wie er nur möglich. Wenn alles präzise an seinem Platz war, konnte er die Welt loslassen.
Er trug eine bequeme Canvashose, ein Karohemd, seinen leichten Sommerhut und seine geliebte Schweizer Armbanduhr, die er vor einer gefühlten Ewigkeit – in den 70ern des letzten Jahrhunderts – von seiner Frau geschenkt bekommen hatte. Nicht zum Hochzeitstag oder zum Geburtstag, sondern einfach so.
Auf seinen Spaziergängen zum See hatte manchmal ein Buch dabei, gelegentlich eine Tageszeitung. Ab und an gar keine Lektüre, weil er einfach die Ruhe genießen und seiner Rita nah sein wollte. Manchmal schloss er die Augen und stellte sich vor, wie Rita neben ihm saß, ihren Arm in seinem, ihre Stimme sanft in seinem Ohr. Nach über vierzig Jahren Ehe war sie immer noch präsent, selbst in ihrer Abwesenheit. Manchmal glaubte er sogar, ihren Duft zu riechen – eine Mischung aus Lavendel und frisch gebackenem Brot. Wagner tagträumte.
Nur selten kam jemand des Weges. Unter der Woche häufig niemand, am Wochenende kamen einige – meistens Jogger oder andere Spaziergänger, die er freundlich grüßte, wie es sich eben in einem kleinen Ort in Oberbayern gehörte, wo jeder jeden kennt.
Und wie jeden Morgen grüßte er seine Freunde Leonardo und Donatella. Die beiden Schildkröten saßen unbekümmert auf einem breiten Baumstamm, der waagerecht leicht schräg ins Wasser ragte. Wagner legte ihnen dann und wann ein Stückchen Apfel, ein Salatblatt oder eine geschnittene Karotte hin. Er schaute gespannt zu, wenn sich die beiden Reptilien wanden, um Obst und Gemüse mit einem Happs zu verschlingen.
Die hat sicherlich jemand ausgesetzt, hatte Wagner von Anfang an vermutet. Er hatte in den letzten Wochen, seit er sie entdeckte, eine gewisse Faszination für die Tiere entwickelt, die jedes Mal an einer anderen Stelle saßen. Der Baumstamm war jedoch ihr Lieblingsplatz. Wagner fragte sich, wie alt die Tiere wohl waren und woher sie kamen. Waren sie Geschwister? Ein Paar? Hatten sie jemals ein Zuhause gehabt, bevor sie hier ausgesetzt wurden? Sie waren um die fünfzig Zentimeter groß, locker zwei Kilo schwer, dunkelgrün, hatten glatte Panzer und gelbliche Streifen auf der Brust. Die meiste Zeit hatte er die Reptilien für sich. Doch manchmal am Wochenende bildete sich eine regelrechte Menschentraube aus Fußgängern, die Fotos von Leonardo und Donatella machten und anschließend schnell wieder verschwanden.
Hübsche Tiere, dachte er. Sehr fotogen. Da kamen ihm unweigerlich die Hunde in den Sinn, die er mit seiner Frau Rita im Laufe der Jahre gehabt hatte. Sie waren gekommen und gegangen. Für ein paar Jahre haben sie uns begleitet, dachte er, dann folgte der Schmerz. Er zog seine silberne Taschenuhr, ein Erbstück von seinem Urgroßvater, hervor. Mit Hingabe hatte er sie in seinen Berufsjahren wieder und wieder gewartet und gepflegt. Darauf war Friedrich Wagner sehr stolz. Kurz vor zwölf schon. Die Zeit vergeht heute wieder wie im Flug, dachte er. Für Donatella und Leonardo schien sie hingegen langsamer zu laufen, was daran liegen mag, dass sie sich während seines Besuchs nur zwei Mal kurz bewegt haben. Ein ganz normaler Tag am See, dachte Wagner.
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2
Gegen Mittag, als die Sonne am höchsten stand, das Licht durch das dichte Blätterdach der alten Eichen flimmerte und das Wasser sanft in goldenen und grünen Tönen schimmerte, machte sich Wagner langsam bereit, um Mittagessen zu gehen. Für sich allein lohnte es sich kaum zu kochen, deshalb wollte er heute im Dorfkrug essen. Dort gab es eine gut bürgerliche Mittagskarte zu einem günstigen Preis. Seine Augen, leicht zusammengekniffen gegen die Sonne, folgten dem gemächlichen Tanz eines fallenden Blattes, das sich schließlich auf der ruhigen Oberfläche des Teiches niederließ und langsam zu den sanft wiegenden Wasserpflanzen am Rand trieb. Donatella und Leonardo hatten sich zuletzt bewegt, als Wagner ihnen vor einigen Stunden ein paar Salatblätter und Möhren an das Ende ihres Astes gelegt hatte. Seitdem ließen sie sich die warmen Strahlen auf den Panzer scheinen und streckten ihre Hälse in die Höhe.
Dann geschah etwas, was Wagners trotz aller Liebe zur Präzision nicht vorgesehen hatte. Knackende Äste und ein Rascheln im Gebüsch rissen ihn aus seinen Gedanken. Ein leises Knacken durchbrach die gewohnte Stille am Teich. Wagner blickte auf und bemerkte eine Dame mit schulterlangem, mittelbraun gefärbtem Haar, das zu einem lockeren Zopf geflochten war. Sie näherte sich. Ein Fernglas baumelte um ihren Hals und ein abgenutztes Notizbuch mit Ledereinband war fest in ihrer Hand umschlossen. Ihre Schritte waren bedacht, als wollte sie die Harmonie des Ortes nicht stören. Sie trug eine leichte Wanderhose und ein hellblaues Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt waren.
„Entschuldigen Sie, störe ich?“ Ihre Stimme war sanft und zugleich bestimmt.
„Keineswegs,“ antwortete Wagner und lächelte freundlich. „Ich genieße nur die Gesellschaft von Leonardo und Donatella.“
„Die Schildkröten?“ Sie deutete mit einem Lächeln auf den Baumstamm, auf dem eine Schildkröte ihren Kopf in die Höhe streckte, als wollte sie die Nase rümpfen. „Sie haben ihnen Namen gegeben?“
„Ja, sie sind praktisch alte Freunde von mir. Ich habe die Tiere nach der Kinderserie benannt, die meine Kids vor bestimmt dreißig Jahren jeden Morgen im Frühstücksfernsehen angeschaut haben. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin Frau Vogel, Annie, Biologielehrerin und ebenso leidenschaftliche Tierfreundin. Ich bin gerade auf Exkursion, nur ohne Schülerinnen und Schüler, denn es sind ja Ferien.“ Ihre Worte waren voller Enthusiasmus, und kleine Lachfältchen bildeten sich um ihre Augen. „Ich habe von diesem abgelegenen kleinen See durch einen meiner Kollegen erfahren und konnte nicht widerstehen, ihn selbst zu besuchen. Ein wahres Biotop. Und die Hauptattraktion kennen Sie ja bestens.“
„Sie meinen wahrscheinlich mich!“ entgegnete der ältere Herr forsch. „Friedrich Wagner. Freut mich! Die meisten nennen mich einfach Wagner. Ist immer noch besser als Fritze.“ Beide lachten.
Anne Vogel und Wagner kamen schnell ins Plaudern. Die Stunden vergingen wie im Flug, während sie Geschichten aus ihre Vergangenheit und ihre Leidenschaft für die Natur austauschten. Wagner erzählte von den Jahren, die er damit verbracht hatte, Uhren zu reparieren.
„Angestellter Uhrmacher, mit einer Vorliebe für Präzision und Geduld“ sagte er und machte mit den Händen eine Geste, die zeigen sollte, wie er früher filigran und gefühlvoll Uhren gebaut und repariert hatte. Eine Zeit lang hatte er sich Fremden als „Wagner, Witwer“ vorgestellt, aber das hatte – völlig unverständlicherweise – viele Menschen verschreckt. „Schauen Sie sich nur die feine Maserung der Tiere an. Und dort, eine von beiden hat einen leicht gesplitterten Panzer!“ Er gestikulierte sanft, während er sprach und kam richtig ins Plaudern wie lange nicht mehr.
Frau Vogel wiederum berichtete von ihren Erlebnissen als passionierte Biologielehrerin, kurz vor dem wohlverdienten Ruhestand, ihre Exkursionen in die Natur und wie sie ihren Schülern die Bedeutung des Naturschutzes nahegebracht hatte. Ihre Augen leuchteten, als sie sprachen. Und so strahlten sich beide an, während sie einander von ihren Lebenswegen erzählten, die teils nur wenige Kilometer voneinander verlaufen waren – und sich dennoch nie gekreuzt hatten.
„Was die Tiere wohl für einander sind?“ fragte Annie.
„Ich glaube, dass der ehemalige Halter sie wahllos ausgesucht hat. Alles ist möglich, Weibchen und Weibchen, vielleicht zwei Männchen oder doch ein Paar?“ sagte Wagner.
„Ich glaube, sie sind ein Paar. Und ich bin mir sicher, dass sie schon ziemlich lange zusammen sind, bevor sie hier gemeinsam strandeten“, sagte Annie und schaute Wagner eindrücklich in die Augen. „Und ich glaube, dass sie hier glücklicher sind als bei ihrem vormaligen Halter.“
Fortan trafen sich Wagner und Annie regelmäßig am See. Nicht jeden Tag. Aber umso freudiger erwartete Wagner sie, wenn sie ihm in seiner täglichen Routine Gesellschaft leistet.
3
An einem stürmischen, wolkigen Junimorgen erreichte Wagner den See erst spät. Das Wetter war ungemütlich und er hatte sich zu seinem täglichen Spaziergang aufraffen müssen. Während die Baumwipfel sich im Wind bogen und die Oberfläche des Sees kleine Wellen warf, die aussahen wie das Grätengerüst eines Fischs, hielt Wagner Ausschau nach seinen kleinen Freunden. Er legte ein paar Apfelstückchen auf den Baumstamm, doch der Wind wehte sie schnell ins bräunlich-trübe Wasser. Was ist das heute nur für ein seltsamer Tag, dachte er. Von Donatella und Leonardo war keine Spur. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Annie war heute früh nicht ans Telefon gegangen. Ein leichter Schauer lief Wagner über den Rücken. Er ließ seinen Blick über die unruhige Oberfläche schweifen, suchte nach den vertrauten Bewegungen, nach den kleinen Köpfchen, die gewöhnlich neugierig in Ufernähe herauslugten. Doch Leonardo und Donatella waren nirgends zu sehen. Sein Herz schlug schneller und eine ungewohnte innere Unruhe ergriff ihn.
„Leonardo, Donatella!“ murmelte er. „Wo seid ihr nur?“
Und wartete, in der Hoffnung, dass die beiden Schildkröten vielleicht nur irgendwo im Schilf versteckt waren. Doch von den Reptilien war nichts zu sehen. In wachsender Sorge griff Wagner nach seinem Mobiltelefon und wählte die Nummer von Annie. Diesmal hörte er eine Stimme am anderen Ende der Leitung. „Annie, sie sind weg! Die Schildkröten sind verschwunden!“ rief er. „Ich habe wirklich überall gesucht. Sie sitzen nicht an ihren Stammplätzen und im Wasser sind sie auch nirgends zu sehen. Am See gibt es ja nicht allzu viele Orte, an denen sie sich verstecken könnten. Sie sind wirklich nicht mehr da!“
„Oh nein! Wo sind sie nur hin?“ antwortete sie, ihre Stimme ebenso von Sorge gezeichnet. Ungefähr eine halbe Stunde später traf Frau Vogel nach Luft ringend am Teich ein. Ihre Wangen waren gerötet vom schnellen Gehen. Zusammen suchten Wagner und Annie das Ufer ab, inspizierten jede Ecke, jedes Versteck, das Leonardo und Donatella hätten wählen können. Sie bückten sich, um unter überhängende Äste zu spähen, und durchkämmten das hohe Gras am Ufer. Sie sahen im flachen Uferbereich ganz genau hin, ob sich die Tiere unter der Wasseroberfläche befanden. Doch es gab keine Spur von ihnen, keine Bewegung im Wasser, keine aufgewühlte Erde am Ufer, die auf ihre Anwesenheit hindeutete. Der Wind pfiff ihnen um die Ohren und die Wolken bewegten sich rasant und bedrohlich über ihren Köpfen.
„Annie, pass auf, dass dir kein Ast auf den Kopf fällt“, warnte Wagner. „Ganz schön gefährlich hier!“ Doch die beiden ließen sich davon nicht abhalten. Sie wussten, dass sie die Schildkröten finden mussten. Etwas war geschehen. Da waren sie sich sicher.
„Wir müssen herausfinden, was passiert ist. Vielleicht sind sie gestohlen worden,“ mutmaßte Annie, während sie die letzte Hoffnung fahren ließ, dass die Schildkröten einfach nur versteckt waren. Wilderei kommt häufiger vor als man denkt, dachte sie. Wenn Menschen mit etwas Geld machen können, haben sie keine Skrupel. Vielleicht sind Leonardo und Donatella längst verkauft?“
Zwar ahnten Wagner und Frau Vogel, dass die Polizei ihnen nicht würde helfen können – schließlich handelte es sich um Reptilien und keine Katze auf dem Baum.
„Lass uns bis morgen früh warten“, schlug Annie vor. „Wir kommen morgen früh wieder, suchen nach ihnen – und wenn wir nichts finden, unternehmen wir etwas!“ schlug Annie vor. Am nächsten Tag war das Wetter wieder klarer, der Sturm abgeklungen, aber die Schildkröten noch immer nicht auffindbar. So fuhr Annie und Wagner in die Polizeidienstelle im Nachbarort. Ein junger Beamter notierte ihre Aussagen und bestätigte, dass es kürzlich Berichte über Wilderei in der Region gegeben hatte.
„Selbst hier sind wir davor nicht gefeit“, seufzte der Beamte.
„Traurig, traurig, wozu Menschen fähig sind“, sagte Annie
Mit schweren Herzen kehrten sie zum Teich zurück, der nun leerer schien als je zuvor. Es war möglich, dass ihre schuppigen Freunde Opfer eines grausamen Handels geworden waren, und dass, wenn sie sie zurückholen wollten, sie schnell handeln mussten. Wagner und Annie hatten eine Mission.
4
„Wenn ich ein Wilderer wäre, würde ich die Tiere möglichst schnell weiterverkaufen. Vielleicht wurden sie ja direkt in der Gegend zum Verkauf angeboten?“ mutmaßte Annie.
„Wenn das so ist, sollten wir keine Zeit verlieren. Sonst sind die Wilderer am Ende über alle Berge!“
„Ja, für ein Terrarium sind sie viel zu groß. Jemand mit einem großen Teich würde sie am ehesten nehmen“, entgegnete Wagner. Er und Annie schauten sich traurig an und beiden standen ab und an die Tränen in den Augen. Die Schildkröten haben es in diesem Teich so gut. Wer würde sie einfach ihrem Zuhause entreißen? dachte Annie, die zugleich wusste, dass der kleine See nicht der natürliche Lebensraum der Reptilien war.
„Diese Ungewissheit, die nagt an mir“, sagte Wagner.
„Sind die beiden Krötis in den Händen von skrupellosen Geschäftemachern gelandet. Oder gibt es vielleicht doch noch Hoffnung? Wagner, wir müssen das herausfinden!“ verkündete Annie. „Wenn die Polizei uns nicht helfen kann, müssen wir eben selbst ermitteln“
„Und wo meinst du, sollten wir anfangen?“ fragte Wagner.
„Wir könnten einige Nachbarn befragen, vielleicht auch Flugblätter verteilen. Oder in sozialen Netzwerken posten!“ schlug Annie vor. „Wir haben eine Menge Möglichkeiten. Im Zweifelsfall fragen wir uns einfach durch. Unser Örtchen ist nicht so groß. Da weiß sicher irgendwer etwas.“
„In sozialen Netzwerken habe ich mich nie angemeldet“, sagte Wagner und schüttelte skeptisch den Kopf. „Das ist mir viel zu unsicher.“
„Dann schaue ich mich dort um – und du durchkämmst die Kleinanzeigen!“ schlug Annie vor.
Sie machten sich an die Arbeit. Nach stundenlanger Suche hatten sie kein Glück. Alle Recherchen waren ins Leere verlaufen. Nichts. Sie hatten einfach kein Glück.
„Wenn wir nur wüssten, wer in der Nachbarschaft einen großen Gartenteich besitzt! Dann wüssten wir, wo wir suchen müssen“, sinnierte Wagner.
Kurzes Schweigen. Annie sah ihn mit großen Augen und geheimnisvollem Blick an. Man sah, wie sie intensiv nachdachte.
„Das wissen wir sehr wohl!“ sagte sie.
Wagner blickte sie fragend an: „Und wie soll das deiner Meinung nach funktionieren? Wir können ja schlecht in die Gärten und Hinterhöfe schauen.“
„Ganz einfach: Wir schauen in Maps auf dem Smartphone in der Satellitenkarte nach. Die Kids würden wahrscheinlich einfach eine Drohne starten lassen. Unser beschauliches Dörfchen ist ja nun wirklich nicht riesig – da sehen wir auf einen Blick, wer einen großen Teich hinter dem Haus hat“, freute sich Annie.
„Mensch Annie, du hättest Ermittlerin anstatt Biologielehrerin werden sollen“, scherzte Wagner. „Oder beides.“ Wagner war überrascht von Annies Scharfsinn und freute sich zum ersten Mal ganz bewusst, dass die Biologielehrerin kurz vor dem Ruhestand aus dem Gebüsch gehüpft kam.
Keine zehn Minuten später saßen sie in Annies in die Jahre gekommenen Kleinwagen und waren auf dem Weg zum Haus mit dem größten Gartenteich weit und breit.
„Ach, mein Ischias“, wimmerte Wagner. „Alt werden ist Scheiße.“
„Stell dich nicht so an! Je älter du dich fühlst, desto älter bist du auch!“ entgegnete Annie frech. „Sag mir lieber, wo ich langfahren muss!“
Wider erwarten befand sich der größte Gartenteich des Ortes in einer Neubausiedlung am anderen Ende des Dorfs. Annie hätte ihn eher auf einem Hof oder einem Gestüt vermutet, von denen es in der Gegend viele gab. Die Neubausiedlung am Dorfrand war eher eng bebaut. Zwischendrin gab es jedoch einige größere Grundstücke mit stattlichen, modernen Einfamilienhäusern. Von dort hatte man den schönsten Blick auf die Alpen in der Ferne. Viele junge Familien hatten sich dort niedergelassen und ihr Zuhause gefunden, das sie vermutlich bis zur Rente abzahlen würden.
Wagner hatte widerwillig und quengelig Platz auf dem Beifahrersitz genommen. Und die beiden düsten im Eiltempo zu dem Haus mit dem größten Gartenteich weit und breit. Die Entfernungen im Ort waren gering und jede Straße ließ sich innerhalb von wenigen Minuten erreichen.
„Mein lieber Scholli“, staunte Wagner. „Was für ein Prachtbau, das ist ja eine regelrechte Villa!“
„Ja, wirklich nicht schlecht, da könnte man es schon aushalten,“ sagte Annie.
„In meinem Alter brauche ich gar nicht mehr so viel Platz“, sagte Wagner und zuckte mit den Schultern. „Wie soll man das denn alles sauber halten?“
„Zumindest, wenn du allein wohnst, Friedrich“, sagte Annie, „Paare und Familien brauchen Platz! Kinder besonders, die brauchen Freiraum zum Spielen und Entdecken.“
Noch bevor sie sich versahen, hatte Annie bereits geparkt, war energisch aus dem Auto gesprungen, hatte geklingelt und stand erwartungsvoll mit verschränkten Armen vor der Tür. Nur einen Moment später öffnete eine große, blonde Frau mittleren Alters mit Pferdeschwanz, in einer ausgewaschenen Jeans und einer sommerlich-leichten, dunkelgrünen Seidenbluse die hohe Eingangspforte
„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“ fragte die Frau, während von hinten ein Junge und ein Mädchen herangeschossen kamen. „Matilda, Paul, wartet im Wohnzimmer oder geht im Garten spielen!“ sagte die Frau. „Ihr braucht hier jetzt nicht rumtoben!“
Wagner kam sich wie ein Staubsaugervertreter vor und fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Rolle als Privatermittler. Annie hingegen schien Freude an den Ermittlungen gefunden zu haben. Sie fühlte sich ein bisschen wie Ace Ventura, der Tierermittler. Ein lustiger Film mit Jim Carry, den sie gefühlt vor Ewigkeiten zuletzt gesehen hatte. Annie kam erwartungsgemäß direkt zum Punkt: „Wir suchen zwei Schildkröten, die uns abhanden gekommen sind. Donatella und Leonardo heißen sie. Wir glauben, dass sie möglicherweise der Wilderei zum Opfer gefallen sind! Sie haben in einem Teich drüben im Naturschutzgebiet gelebt. Und seit einiger Zeit sind sie einfach verschwunden! Wir haben alles abgesucht – sie können sich nirgends versteckt haben. Und als Beute für einen Greifvogel sind die beiden einfach zu groß.“ Annie war aufgeregt und kam außer Atem.
„Der Wilderei? Das ist ja verrückt“, sagt die Frau und hielt einen Augenblick inne.
„Verrückt? Was ist daran verrückt? Unsere Schildkröten sind verschwunden. Vielleicht sind sie in Gefahr oder werden gequält“ bemerkte Wagner. „Haben Sie eine Idee, wo unsere Schildkröten sein könnten?“ Pause. Die Drei sahen sich fragend an.
„Ja, das habe ich allerdings“, sagt die Frau.
„Und können Sie uns sagen, was mit ihnen passiert ist? Wurden sie Ihnen zum Kauf angeboten? Haben Sie Anzeige erstattet?“ Wagner war aus dem Häuschen. Annie befürchtete, dass er vielleicht einen Herzinfarkt bekommt, wenn er sich nicht beruhigt. So kannte sie ihn gar nicht. Die Schildkröten müssen ihm wirklich wichtig sein, dachte sie. Und schloss daraus: Wagner muss sehr, sehr einsam sein.
„Sie sitzen bei uns im Gartenteich“ sagte die Frau mit einem leicht verschmitzten Lächeln.
„Das gibt’s doch nicht!“ sagte Wagner. „Ich falle aus allen Wolken!“
„Wie kommen denn unsere Schildkröten hier her?“ fragte Annie.
„Ihre Schildkröten?“ fragt die Frau. Nach einer kurzen Pause: „Kommen Sie doch erstmal herein! Dann erzähle ich Ihnen alles!
Die beiden Privatermittler wider Willen betraten das stattliche Haus der Frau.
„Wie schön sie es hier haben!“ kommentierte Annie. „Bei Ihnen lässt es sich wirklich aushalten.“
„Vielen Dank“, sagte die Frau. „Ich bin übrigens Stefanie Krüger. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Nennen Sie mich der Einfachheit halber Steffi.“
„Die Freude ist ganz meinerseits“, sagte Annie.
„Unsererseits…“, korrigierte Wagner zähneknirschend und war sich noch nicht ganz sicher, was er von der verwirrenden Situation halten sollte. Hatte die Frau den Wilderern die Reptilien abgekauft und sie einfach in ihren Gartenteich gesetzt? Hatte sie Anzeige wegen illegalen Tierhandels erstattet? fragte sich Wagner. Fragen über Fragen, die sich hoffentlich bald klären sollten. Wenn diese Frau etwas mit dem Verschwinden zu tun hatte, wollte er sie zur Rechenschaft ziehen.
„Ich bin Annie Vogel und das ist Friedrich Wagner, aber alle nennen ihn nur Wagner, weil Friedrich zu lang ist und Fritze ihm zu umgangssprachlich.“
„Ganz recht“, stimmte Wagner zu.
„Aha, ich verstehe“, entgegnete Steffi etwas irritiert. „Die junge Dame und der Herr dort hinten sind übrigens Matilda und Paul.“
„Wirklich zwei entzückende Kinder, Steffi!“ sagte Annie.
„Ja, ganz aufgeweckt“, sagte die zweifache Mutter. „Die Große ist schon auf dem Gymnasium und der Kleine ist in der Vierten, letztes Jahr Grundschule.“ Wagner gefiel es nicht, dass sich die Frauen so gut verstanden und befürchtete, dass Annie sich wohlmöglich mit dem Feind verbündete.
Steffi führte Annie und Wagner ins Wohnzimmer.
„Das haben sie ja wirklich geschmackvoll eingerichtet“, betonte Annie, die sich neben Biologie auch für Inneneinrichtung und Architektur interessierte. „Minimalistisch gehalten – und doch nicht kühl“, bemerkte sie.
„Vielen Dank!“ sagte Steffi. „Wir haben uns sehr viel Mühe gegeben und sehr auf die Details geachtet. Wir wollen schließlich unser Leben in diesem Haus verbringen.“
„Steffi, ich bin unglaublich gespannt, was du über die Schildkröten weißt!“ sagte Wagner in seinem ruhigen Ton.
„Das kann ich dir gern sagen, nein, besser zeigen!“ sagte Steffi. Schon etwas seltsam, jemanden zu duzen, den man erst seit ein paar Minuten kennt, dachte Wagner, der viel Wert auf Etikette legte.
Steffi führte die beiden durch das große, helle Wohnzimmer, vorbei an einer riesigen, beigen Alcantara-Couch hinaus durch die breite Terrassentür. Die ganze Front des Wohnzimmers war bodentief verglast und ermöglichte einen Ausblick auf den riesigen Garten, der sicherlich mehr als 1000 Quadratmeter hatte. Im Hintergrund war die Silhouette der Chiemgauer Alpen zu sehen. Was für ein herrlicher Ausblick! Und im Vordergrund befand sich der vermutlich größte Gartenteich, den Annie je gesehen hatte.
„Ein Schwimmteich“, sagte Steffi. „Das ist unser ganzer Stolz. Mein Mann und ich haben ihn selbst entworfen und bei den Bauarbeiten geholfen. Wir ihr seht, ist das ein Naturteich, aber die Kinder können drin schwimmen, wenn sie möchten.“
„Wie schön“, sagte Wagner, der sich bisher vornehm zurückgehalten hatte. „Das ist bestimmt toll für die Kleinen!“
„Ein regelrechter Abenteuerspielplatz, in dem Kids etwas lernen können. Ich bin Biologielehrerin, musst du wissen, Steffi. Ein wahres Paradies für Schildkröten!“ rief Annie aus. „Wagner, schau mal, siehst du sie? Siehst du sie?“
Wagner fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Auf einem Ast, der als Dekoration am linken Rand des Teichs ins Wasser ragte, saßen die beiden Schildkröten und aalten sich in der Sonne.
„Ich kann es kaum glauben!“ rief er, „Leonardo und Donatella! Da seid ihr ja.“ Er hatte vermutet, dass er sie nie wiedersehen würde. Dann wandte er sich zu Steffi und blickte sie grimmig an: „Wie zur Hölle kommst du an unsere Schildkröten?“
„Nicht vor den Kindern!“ mahnte Annie. „Entschuldige, Steffi.“
Steffi blickte ernst und etwas verschämt drein: „Was soll ich Euch sagen?“
„Die Wahrheit wäre gut!“ sagte Wagner.
„Wagner, ein Schuss, ein Treffer! Wir sollten unsere Dienste als Privatermittler anbieten!“ sagte Annie und lachte. Wagner wiederum verstand gerade gar keinen Spaß. Hatten Steffi und ihr Mann etwa ihre Schildkröten entführt, um sie als Deko in ihren Gartenteich zu setzen? Was für ein entsetzlicher Gedanke, dachte Wagner. Was sind das nur für Menschen, die Tiere ihrem Zuhause entreißen?
Währenddessen kamen Matilda und Paul mit einem Teller voller Obst und Gemüse – klein geschnittenen Äpfeln, Salat und Karotten.
„Möchten Sie etwas?“ fragte Matilda Wagner forsch. „Ist gesund und gut für die Nerven!“ Paul sagte nichts und blickte verschämt drein, weil er spürte, dass der alte Mann sehr wütend auf sie war.
„Nein, danke!“ sagte Wagner. „Ich bin nicht hungrig.“ Er hatte die kleine Spitze des klugen Mädchens nicht erkannt. Sie legte einen Teil der Rohkost vorsichtig auf den Baumstamm. Die Schildkröten wurden direkt darauf aufmerksam. Annie beobachtete fasziniert, wie die Kinder vorsichtig die Schildkröten fütterten. Wie schön, dachte sie. Die Kids lernen die behutsame Interaktion mit den Tieren.
„Wagner, beruhige dich!“ sagte sie. „Es gibt sicher eine gute Erklärung für diese.. diese.. Situation.“
„Ja, die gibt es!“ sagte Steffi. Und genau in diesem Moment kam ihr Mann aus dem Wohnzimmer.
„Leander!“ rief Steffi. „Du bist heute aber früh Zuhause!“
„Ich konnte bei dem schönen Wetter etwas früher Feierabend machen. Ich dachte mir, wir könnten vielleicht später noch grillen?“ sagte Leander, der in Jeans, Hemd und Jackett von der Arbeit kam. „Was ist denn hier los?“ fragte er und blickte etwas ungläubig drein.
„Diese freundlichen Herrschaften sind auf der Suche nach zwei verschwundenen Schildkröten“, berichtete Steffi.
„Sie haben unsere Schildkröten gestohlen!“ rief Wagner dem sichtlich irritierten Leander entgegen. „Wie konnten Sie so etwas nur tun?“
„Gestohlen?“ fragte Leander ungläubig.
„Ja, gestohlen!“ wiederholte Wagner.
„Friedrich, jetzt beruhige dich aber!“ rief Annie.
„Niemand hat hier irgendwen gestohlen“, erklärte Steffi. „Jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder. Ich würde sagen, wir setzen uns und ich erzähle euch in aller Ruhe, wie wir an die Schildkröten gekommen sind. Herr Wagner, möchtest du einen Kaffee? Annie, Kaffee? Oder vielleicht einen Aperol Spritz?“
„Oh ja, sehr gern einen Aperol“, sagte Annie. „Und für Wagner bitte einen Beruhigungstee. Nicht wahr, mein Lieber?“
„Ja, Tee bitte, Kaffee vertrage ich nicht besonders gut“, sagte Wagner kleinlaut. „Dann bin ich mal gespannt, wie die Schildkröten hier gelandet sind.“
5
Wagner, immer noch aufgebracht, nippte an seinem Tee, während Annie genüsslich ihren Aperol Spritz schlürfte.
„Daran könnte ich mich gewöhnen“, sagte sie freudig. Das der Friedrich mir keinen Herzinfarkt bekommt, dachte Annie nun schon zum zweiten Mal. Steffi und Leander setzten sich ihnen gegenüber an den großen Terrassentisch und die Kinder kuschelten sich zwischen die gemütlichen Kissen der Hollywoodschaukel, die am hinteren Ende des Tischs stand. Erwartungsvoll schauten Wagner und Annie zu den beiden Erwachsenen herüber. Die Spannung war greifbar.
„Also gut“, begann Steffi mit einem tiefen Atemzug. „Vor ein paar Tagen waren wir mit den Kindern am See spazieren. Matilda und Paul lieben es, dort herumzutoben, die Enten zu füttern und nach den großen Karpfen Ausschau zu halten.“
„Und die Schildkröten zu beobachten“, fügte Matilda hinzu.
„Ja, genau“, sagte Steffi. „An diesem Tag sahen wir, wie ein paar Jugendliche Steine auf die Schildkröten warfen. Sie lachten und schienen Spaß daran zu haben, die Tiere zu ärgern. Das hätten wir niemals für möglich gehalten, dass sich jemand so dumm verhalten kann!“
Wagners Augen weiteten sich: „Das ist ja entsetzlich! Wie können die nur so etwas tun?“ fluchte er. „Warum habe ich Euch noch nie am Teich gesehen?“
„Vermutlich, weil wir vormittags dort sind und die Steffi am Nachmittag?“ sagte Annie.
„Ja, so ist es, wir gehen häufig am späten Nachmittag oder frühen Abend. Und dann haben wir dort die Jugendlichen gesehen, die laute Musik anhatten, Bier getrunken haben und ein Lagerfeuer machen wollten. Sie haben mit Ästen und Steinen nach den Tieren geworfen. Aus purer Langeweile, vermute ich. Das hat uns alarmiert. Wir konnten das natürlich nicht zulassen“, fuhr Leander fort. „Wir haben die Jugendlichen angesprochen und die Schildkröten untersucht. Die frechen Teenager hatten überhaupt keine Einsicht. Die Tiere schienen immerhin unverletzt zu sein, aber wir hatten Angst, sie dort zurückzulassen. Schließlich sind es ausgesetzte Schildkröten, die in dem See nicht heimisch sind. Also haben wir sie spontan mitgenommen und in unseren Teich gesetzt. Das war eine Familienentscheidung!“
Familienentscheidungen, dachte Wagner, die kenne ich nur zu genüge. Was hatten wir früher mit meiner Frau und den Kindern für Beschlüsse zu treffen. Wir waren zusammen – und wir waren stark, erinnerte er sich. Wagner und Annie sahen sich erleichtert an. Dankbarkeit breitete sich in ihren Gesichtern aus. Wagner war wie vom Blitz getroffen. Plötzlich ereilte ihn eine Einsicht, die die Wut komplett von ihm abfallen ließ. Er verstand, dass es in diesem Moment um mehr ging als um ein entführtes Schildkrötenpaar.
„Keine Wilderer?“ fragte Wagner.
„Nein, keine Wilderer“, sagte Leander mit einem lächeln. „Nur eine schrecklich nette Familie, die sich um die Schildkröten gesorgt hat und ein Haufen halbstarker Jugendlicher.“
„Ihr habt ihnen das Leben gerettet“, sagte Annie mit Tränen in den Augen. „Wir waren so besorgt, dass sie in den Händen von Wilderern gelandet sein könnten.“
„Wir haben uns auch Sorgen gemacht, dass uns jemand beschuldigen könnte, die Schildkröten gestohlen zu haben“, gestand Steffi. “ Aber wir konnten sie einfach nicht ihrem Schicksal überlassen. Wer weiß, was die Kids mit ihnen gemacht hätten, wenn noch mehr Alkohol im Spiel gewesen wäre. Wie gesagt, sie sind hier nicht heimisch. In den Seen werden überall Schildkröten ausgesetzt. Das hat uns die Entscheidung leicht gemacht.“
„Am schlimmsten ist es in Großstädten, bei uns im Chiemgau kommt es eher selten vor, aber es kommt vor. Und wenn der Winter streng ist, kommen die Tiere vielleicht nicht durch. Hier können wir sie ins Haus nehmen, wenn es zu kalt wird“, erklärte Leander.
„Wir haben deshalb alle vier gemeinsam die Entscheidung getroffen, die Schildkröten mitzunehmen“, sagte Steffi.
„Das verstehe ich“, sagte Wagner. „Und ich bin euch ausgesprochen dankbar, dass ihr diesen Jugendlichen gesagt habt, was Sache ist.“
„Ja, da habt ihr recht, die Arten sind hier nicht heimisch“, erklärte Annie. „Und es stimmt, unter Umständen schaffen die Tiere den Winter nicht. Wenn sie zuvor im Terrarium gehalten wurden, waren sie an dem See besser aufgehoben. Aber wenn sie die Chance haben, in eurem Gartenteich zu leben, ist das ideal“, betonte sie.
Die Atmosphäre entspannte sich langsam und bald füllte sich das Haus mit Lachen und angeregten Gesprächen. Beim Grillen am Abend erzählten Wagner und Annie von ihren Leben, von ihren Familien, den Kindern, die längst aus dem Haus waren, und von der Leere, seit ihre Partner nicht mehr da waren.
„Wir vermissen es, Großeltern zu sein“, sagte Annie traurig. „Ich habe keine Enkel und Wagners Großkinder wohnen leider viel zu weit weg. Sie kommen viel zu selten.“
Matilda und Paul sahen sich an und flüsterten miteinander. Dann kam Matilda zu Annie und nahm ihre Hand.
„Bei uns ist es genau umgekehrt – unsere Großeltern wohnen weit weg! Wenn Ihr möchtet“, sagte sie schüchtern, „könnt Ihr unsere Ersatz-Oma und Ersatz-Opa sein.“
„Matilda, bitte, du kannst doch nicht. Du kennst die beiden doch gar nicht“, sagte Steffi.
„Klar kann sie“, sagte Annie, während ihr ein überraschtes Lächeln über das Gesicht huschte.
Paul nickte eifrig. „Ja, bitte!“, sagte er.
„Wir könnten uns sicher gelegentlich um Eure Kids kümmern – und um die Schildkröten. Natürlich nur, wenn es Euch nichts ausmacht!“ sagte Annie.
„Nein, ganz sicher nicht!“ sagte Leander voller Freude.
„Sehr gern sogar“, sagte Steffi. „Probieren geht über Studieren – einen Versuch ist es auf jeden Fall wert!“
Wagner und Annie blickten sich hoffnungsvoll an. Was für ein verrückter Tag, dachte Annie. Was für ein schöner, verrückter Tag!
Später am Abend saßen Wagner und Annie auf einer Bank am Gartenteich und beobachteten Donatella und Leonardo, die sich in ihr Nachtquartier zurückgezogen hatten und nur noch mit den kleinen Köpfen aus dem Wasser blickten.
„Es ist letztlich schön, dass alles so gekommen ist“, sagte Wagner mit einem Lächeln. „Ich kann es zwar alles noch gar nicht richtig verstehen, aber schön ist es!“
„Du sollst es auch nicht verstehen, du sollst es fühlen!“ sagte Annie. „Du bist manchmal ein ganz schöner Dickkopf, wie du vorhin geschimpft hast.“
„Und du bist mit allem so schnell, da kommt man ja kaum hinterher!“ entgegnete Wagner.
„So ist es.“ Annie nickte und nahm seine Hand. Ihre Finger verschränkten sich sanft und hielten einander fest.
„Ein Neuanfang?“ fragte Wagner.
„Ja“, flüsterte sie. „Es ist ein Neuanfang für uns alle.“
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